Cover
Titel
Protest. Deutschland 1949–2020.


Herausgeber
Langebach, Martin
Reihe
Zeitbilder
Anzahl Seiten
467 S.
Preis
€ 7,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Sepp, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Wer noch daran zweifelt, dass öffentlicher Protest schon lange als legitimes Element zum Selbstverständnis der Bundesrepublik gehört, lässt sich vielleicht ausgerechnet vom früher eher für seinen Kadavergehorsam bekannten deutschen Militär überzeugen: „Wir kämpfen auch dafür, dass du gegen uns sein kannst“, lautete vor einigen Jahren ein Werbespruch der Bundeswehr. Diese Normalisierung von Protest ist eine der zentralen Thesen, die sich unmittelbar aus dem von Martin Langebach für die Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Band „Protest. Deutschland 1949–2020“ ergibt. Die Intention dieses Bandes ist es, die Geschichte des öffentlichen Protestes in den drei deutschen Staaten seit 1949 darzustellen. Protest wird mit Dieter Rucht und anderen als „kollektive, öffentliche Aktion nicht-staatlicher Träger“ begriffen, „die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anspruchs oder Ziels verbunden ist“ (S. 11) – eine breite Definition, die das Projekt aufgrund der schieren Masse des Materials sehr ambitioniert macht.

Das Konzept des Bandes ist daher voraussetzungsreich, aber durchdacht: Den rund 90 Kurzdarstellungen verschiedener „Protestereignisse“ und den Kurzbiographien exemplarischer Protestteilnehmer:innen werden sechs längere Aufsätze zur Seite gestellt, in denen Forschungsfelder und -probleme angerissen werden: So beschäftigen sich Moritz Sommer, Elias Steinhilper und Sabrina Zajak mit dem Sozialprofil Protestierender, Mundo Yang und Sigrid Baringhorst nehmen die Interaktion von Protesten mit den Wahrnehmungslogiken politischer und medialer Öffentlichkeiten in den Blick, und Stine Marg geht den Möglichkeiten zur Erforschung gesellschaftlicher und individueller Folgen von Protestereignissen nach. Die Aufsätze rahmen damit den Hauptteil des Bandes ein, der neben den 16 – größtenteils etwas blassen – Kurzbiographien mehr oder weniger prominenter Protestakteur:innen aus den knappen Darstellungen ausgewählter „Protestereignisse“ besteht, die sich jeweils mit einem Datum verbinden und chronologisch geordnet sind.

Die Reihe „Zeitbilder“, in der der Band erscheint, richtet sich an ein interessiertes, auch jüngeres Laienpublikum. Das Buch ist schön aufgemacht und mit mehr als 400 Abbildungen üppig illustriert; so lädt es vor allem zum Blättern und Querlesen der verschiedenen Geschichten ein. Das funktioniert tatsächlich gut: Gerade durch die zeitliche Abfolge ergeben die Beschreibungen der verschiedenen Proteste eine faszinierende Kulturgeschichte der deutschen Staaten. Auf die „Schwabinger Krawalle“ 1962 folgen Proteste gegen das Verbot von Beatmusik in der DDR, die Besetzung des Georg-von-Rauch-Hauses in Kreuzberg 1971 fand fast zur gleichen Zeit statt wie eine Traktorkarawane gegen die Agrarpolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an der deutsch-dänischen Grenze, und wo den Supermarktkund:innen Flugblätter für einen apartheidskritischen Boykott von Früchten aus Südafrika in die Hand gedrückt wurden, liefen bald danach die eselsmaskentragenden Holocaustleugner der Aktionsfront Nationaler Sozialisten durch die Straßen. Das Erscheinen letzterer macht schon deutlich, dass Protestaktionen hier nicht von vornherein als normativ wünschenswert oder per se emanzipativ gezeichnet werden, wie es bei rebellionsnostalgisch angehauchten Werken etwa über „1968“ manchmal anklingt. Philipp Gassert hat darauf hingewiesen, dass rechtsradikale oder antiliberale Proteste von der Forschung oft nur wenig beachtet wurden, weil sie nicht so ganz in das Bild demokratischer Protestkultur passten (vgl. S. 55).

Die hohe Zahl von etwa 90 abgedeckten Ereignissen sorgt naturgemäß dafür, dass die Beiträge recht heterogen sind: Während der Großteil der Artikel sich tatsächlich vor allem um einzelne Demonstrationen oder Aktionen dreht, nehmen andere Autor:innen solche Ereignisse eher als Aufhänger, um die Geschichte einzelner Protestthemen bis in die Gegenwart zu erzählen – etwa die Proteste von Landwirt:innen oder den Kampf für die Legalisierung von Abtreibungen. Manche erzählen eher Bewegungsgeschichten – wie den Einsatz für die Emanzipation Homosexueller –, andere wiederum beziehen sich stärker auf einzelne Organisationen, etwa auf die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen oder auf Greenpeace. Aus der Zusammenschau der verschiedenen Demonstrationen und Aktionen erscheinen die in den begleitenden Aufsätzen zusammengefassten Thesen unmittelbar plausibel, so etwa die Beobachtung eines Wandels der Akzeptanz, der Häufigkeit und der Trägergruppen von Protest. Gasserts These (S. 46f.), dass der Protest inzwischen ein „konsensuales Medium der bürgerlichen Mitte“ und in der Grundhaltung eher „bewahrend, konservativ, ‚konformistisch‘“ geworden sei, wird zwar als verkürzt zurückgewiesen, eine zunehmende „Normalisierung von Protest“ sei aber kaum zu bestreiten.

Auch die Einteilung in verschiedene „Protestzyklen“ erscheint mit Blick auf die skizzierten Proteste einleuchtend: In der Bundesrepublik könne man die Proteste der Nachkriegsgesellschaft mit einem Fokus auf die Themen Arbeit, Frieden und die Versorgungslage von den Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1960er-Jahren abgrenzen, die stärker an lebensweltliche Erfahrungen der Akteur:innen anknüpften; in der DDR hingegen habe sich Dissens aufgrund der staatlichen Repression eher in der massenhaften Ausreise geäußert, auch wenn sich die (seltenen) Proteste ab den 1970er-Jahren ebenfalls stärker an subkulturellen Themen orientiert hätten. Die wiedervereinigte Bundesrepublik könne nun als „Bewegungsgesellschaft“ gekennzeichnet werden, in der sich Proteste weiter ausdifferenziert, diversifiziert und noch stärker normalisiert hätten. Wie ausdrücklich angemerkt wird, gilt diese Periodisierung aber nicht für alle Proteste: Gewerkschaftliche Streiks und Arbeitskämpfe, Bauernproteste und die Mobilisierung migrantischer Gruppen, die gegen politische Unterdrückung in ihren Heimatländern protestieren, sowie lokale Proteste liegen in der Tat quer zu dieser Epocheneinteilung (Sebastian Haunss, S. 80). Die chronologische Herangehensweise hat dabei den Vorteil, dass der Wandel von Protestthemen und -beteiligten, ohne es explizit zu machen, eindeutig als Teil der politischen Kultur des jeweiligen deutschen Staates erzählt wird; Protest erscheint so nicht als das Andere der etablierten Politik, sondern entsteht erst durch das immer neu ausgehandelte Zusammenspiel von Protestierenden und Herrschenden.

Das Vorhaben des Herausgebers, bekannte und unbekannte Proteste in West und Ost gleichmäßig abzudecken, muss naturgemäß unvollständig bleiben, ist größtenteils jedoch gelungen. Auch wenn sich Langebach erkennbar bemüht hat, Proteste auf beiden Seiten der Mauer ausgewogen zu berücksichtigen, sind die Beispiele offen gezeigter Opposition aus der DDR aus naheliegenden Gründen spärlicher und kürzer als diejenigen in der Bundesrepublik. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf eine konzeptuelle Vorannahme, die die Darstellung entscheidend prägt: Protest wird hier, wie erwähnt, als sich in bewusst öffentlich sichtbaren „Protestereignissen“ manifestierende Reihe von Wortmeldungen verstanden, also hauptsächlich von Demonstrationen, symbolischen Aktionen, Flugblättern, Streiks und Blockaden. Das ist eine nachvollziehbare Herangehensweise, die aber vieles unsichtbar macht, was man ebenfalls als Protest verstehen könnte: Der Fokus auf öffentliche Äußerungen vernachlässigt weniger demonstrative Formen des Protestes – etwa diejenigen der sich der Leistungsgesellschaft verweigernden „drop-outs“, Verhaltensänderungen wie Unternehmensboykotte oder auch nur das Meckern am Stammtisch. Zudem kann der Schwerpunkt auf Ereignisse des Protests übergreifende Phänomene wie das alternative Milieu, das sich dem Selbstverständnis nach in seiner ganzen Arbeits- und Lebensgestaltung dem kapitalistischen System verweigern wollte, nicht zusammenhängend in den Blick bekommen. Während man diese Perspektive für die Bundesrepublik noch nachvollziehen kann, läuft sie für die DDR Gefahr, letztlich das Bild einer passiv-unterdrückten, weitestgehend protestfreien Gesellschaft zu reproduzieren, statt weniger sichtbare Formen von Resistenz oder protestierender Mitwirkung – etwa durch das rege genutzte System der Eingaben – ebenfalls als eine, wenn auch andere Form von Protest zu verstehen.

Überdies ist mit dem gewählten Fokus auf einzelne Protestereignisse die Tendenz verbunden, gesellschaftlichen Wandel zumindest implizit stark auf Protest zurückzuführen – zwar wird dies in den begleitenden Aufsätzen wieder relativiert, aber oftmals wird in den Beiträgen wenig reflektiert, ob der Protest gesellschaftlichen Wandel wirklich anstößt oder nicht eher ein Symptom dieses Wandels ist. Insofern wäre auch eine stärkere Verbindung der rahmenden Aufsätze mit den Kurzbeiträgen wünschenswert gewesen. Von diesen Kritikpunkten abgesehen überzeugt das Konzept des Bandes aber dennoch. Gerade durch die hohe Zahl an teils bekannten, teils vergessenen Protestereignissen bietet er für die deutsche Geschichte seit 1949 sowohl ein breites Panorama solcher Ereignisse als auch eine Einführung in die Protest- und Bewegungsforschung.